Dienstag, 1. Februar 2022

Was siehst du?

 

Nun stehe ich hier. Im Raum der vielen Spiegel und ich weiß gar nicht, warum ich hier bin. Sieh dich an, sagten sie mir. Geh und sieh dich an und sag uns, was du gesehen hast.

Was ich sehe? Einen dummen Jungen, der in allem versagt. Kein Zauber will gelingen, keine Anweisung kann er befolgen. Ja, nicht einmal zugeben, dass er glücklich ist, dass er noch lebt. Ich sehe nur einen dummen Jungen, der versucht die ganze Welt zu hassen. Am liebsten würde ich die Spiegel alle zertrümmern. Alle auf einmal, damit diese Art der Folter aufhört.

Sieh dich an und sag uns, was du gesehen hast!

Aber das ist es nicht, was ich sehe. Ich sehe einen Mann neben mir, der sanft mit mir spricht. Ich sehe, wie er mich versucht zu trösten und ich sehe, wie ich ihn verletze. Ich brauche dich, formen meine Lippen. Ich sehe dieses wunderschöne Mädchen, ihr Lächeln, welches wie ein Sonnenstrahl meine Seele erwärmt. Plötzlich sind beide weg und ich sehe nur mich. Allein in den mit Spiegeln vollgestopften Raum. Es ist keine Wut, die ich spüre. Ein Bedauern legt sich auf meine Züge und ich beginne zu verstehen. Die ganze Zeit war sie in mir und ich vermochte sie nicht zu deuten. Diese Traurigkeit, die sich seit jenem Schicksal in mich fraß. Jene Wut, jener Zorn geboren aus tiefster Verletztheit.

Ich sehe einen Jungen, der anfangen sollte zu zugeben, dass er viel mehr bekam, als er verloren glaubte. Dieser dumme Junge mit seinen hellbraunen Augen und braunen Haaren, mit gestählten Muskeln muss lernen, dass er es nicht besser hätte haben können. Menschen waren um ihn, die ihn liebten. Menschen, die für ihn sterben würden. Langsam entblöße ich meine Narbe am Becken und streiche mit spitzen Fingern über sie. Ohne meine Kameraden, ohne meine jetzigen Freunde, stünde ich nicht hier. Ohne sie gäbe es mich nicht. Es tut mir leid, flüstere ich mir selbst zu. Und zum ersten Mal sehe ich mich ganz deutlich.

Wieder da

 Es hat sehr lange gedauert und ich weiß nicht, ob sich noch jemand hierher verirrt. Ich war sehr lange weg. Mein Leben wurde auf brutalste Weise auseinander genommen. Ich habe quasi mein Leben verloren ohne zu sterben und doch starb etwas in mir. Ich konnte nicht mehr schreiben. Mein Kopf war leer. Selbst Texte konnte ich nicht mehr überarbeiten. Also, was war geschehen? Die Geburt meines Sohnes war brutal und hat mich sehr verstört. Ich konnte lange nicht darüber sprechen und habe die wichtigsten Einzelheiten für mich behalten. Dann war da noch mein Traumehemann, der sich als absolutes Grauen herausstellte. Aber ich unterwarf mich ihm nicht und dafür setzte er mich mit Baby vor Tür. Mein Leben war ein Schlachtfeld, so fühlte es sich für mich jedenfalls an. Alles lag zertrümmert herum. Meine Erinnerungen an schöne Urlaube, der Glaube, dass er mich liebte. Alles gelogen. Alles diente nur einem Ziel, mich zu halten, mich gefügig zu machen. Nur hat er sich dafür die Falsche ausgesucht. Ich war am allen Schuld. Ich war die Bestie und heute weiß ich, dass das alles zu seinem kranken Spiel gehörte. Erniedrigungen und Machtspiele gehörten nach der Geburt dazu. Brüllen tat er, wenn ich unseren Sohn stillte, oder auf dem Arm hatte. Jetzt ist es mehr als sechs Jahre her, das ich gegangen bin und ich bereue es bis heute nicht. Schließlich hätte ich auch demütigst zu ihm zurück gehen können. Angeboten hatte er es mir. 

Heute bin ich hier. Schreibe diese paar Zeilen und weiß eigentlich nicht so wirklich warum. Vielleicht nur um zu erklären, warum ich so lange weg war. In der Hoffnung, dass jemand meinen Blog all die Jahre nicht vergessen hat. Und an alle Neuen sei gesagt: 

Herzlich Willkommen 

Nur ein Gefühl

Sanft streiche ich über seine Hand und schaue ihn aus warmen Augen an. Wie er so da liegt, tut es mir in der Seele weh. Ich lausche auf seine unregelmäßigen Atemzüge und für einen Moment vergesse ich zu atmen. Mein Innerstes erzittert bei dem Gedanken, er könne womöglich nie wieder aufwachen. Sein Kopf, eingewickelt in einem weißen Verband, sein rechter Arm gegipst und die Maschine, die dafür sorgt, dass er genügend Sauerstoff bekommt, machen meine Sorgen nur um so größer. Wie soll ich ohne ihn zurechtkommen? Wie kann ich ohne ihn im Leben bestehen? Ich brauche ihn an meiner Seite, aber jetzt muss ich stark für ihn sein, das sagen mir auch die Ärzte. Ich streichele seine Wange und verbiete mir meine Tränen, die nur ein Ausdruck meiner Gefühle sind, die ich jetzt nicht gebrauchen kann. Mein Herz zerreißt, zieht sich schmerzlich zusammen und ich schnappe nach Luft. Meine Träume machte ich zu seinen und er machte die Seine zu meinen. Unser Haus ist nicht abbezahlt, das Kind in meinem Bauch wird bald kommen und ich fürchte mich davor, dass er es nie sehen wird. Ich schaue auf die Uhr und presse meine Lippen aufeinander. Niemals habe ich auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wie es sein wird, wenn er nicht mehr da ist. Wahrscheinlich aus dem Grund, weil ich es mir gar nicht vorstellen kann. Meine Finger umschließen seine Hand und halten sie fest. Ich bete. Zum ersten Mal in meinem Leben bete ich und flehe darum, dass er mir meinen Lukas nicht nimmt. Er darf ihn mir nicht nehmen. Ich brauche ihn. Wir brauchen ihn. Mir ist egal, ob er laufen kann. Mir ist egal, ob er wieder ganz gesund wird, solange er bei mir ist. Für mich gibt es nicht einen Grund, ihn jemals zu verlassen. Ich habe ihn geheiratet und nicht, weil er gut verdient, sondern weil mein Herz mir sagte, dass er der Mann meines Lebens ist. Und ich weiß, wenn er gehen sollte. Wenn er mich allein mit unserem Kind zurücklässt, werde ich einsam bleiben. Kein Mann dieser Welt kann Lukas das Wasser reichen. Niemals werde ich einen anderen ansehen können, denn ich habe gefunden, was andere versuchen zu finden. Innigkeit. Zweisamkeit. Zusammen haben wir Berge versetzt, um einander gekämpft und gesiegt. Nein, wenn ich ihn verliere, wenn er stirbt, stirbt ein Teil meiner Seele mit ihm und ich werde sehnsüchtig den Tag herbei sehen, an dem er mich abholen kommt, damit wir in der Ewigkeit für immer zusammenbleiben. Wo immer auch dieser Ort sein mag, aber ich glaube fest daran, dass wir im Tod zueinander finden, und uns dann nichts mehr trennt. Vorsichtig hebe ich seine Hand an meine Lippen und küsse sie. Meine Tränen finden ihren Weg meine Wangen hinab und gequält unterdrücke ich einen Schluchzer. Wenn er geht, bleiben nur eine Leere und unser gemeinsames Kind, auf das wir uns so freuten. Meine Gefühle schnüren mir meine Kehle zu, und wenn ich in mich lausche, finde ich nur eine Stille, die mich auseinandernimmt. Mein Herz in meiner Brust tut weh und dieses Gefühl, welches uns zusammenbrachte, bringt mich schier um den Verstand. Mit einer Hand halte ich seine und mit der anderen streiche ich behutsam über meinen Bauch. »Bitte wach auf. Deine Familie braucht dich mein Schatz.«

Montag, 8. September 2014

Der Dämon im Bad

Natürlich hörte ich von den Gerüchten, ein Dämon wüte in der Stadt. Aber mal ehrlich,  soll ich diesen Quatsch glauben? Die Zeitungen sind voll von diesem - Wesen. Die Leute haben mal wieder nichts Besseres zu tun, als die Gesellschaft in Angst und Schrecken zu versetzen. Diese verdammten Journalisten. Diese Geldgeier. Was die einen immer versuchen, aufzutischen. Mal ist es eine schlimme Krankheit, dann sprechen sie von einer Seuche und jetzt soll es eine Höllenkreatur sein. Wütend werfe ich die Zeitung zurück zu den anderen und verlasse den Bahnhofskiosk, dabei schaue ich auf meine Uhr und stelle fest, dass meine Bahn erst in fünfzehn Minuten fährt. Womöglich sollte ich mir den Blödsinn doch einmal durchlesen, entscheide mich jedoch dagegen. Tamara, mit der ich mir ein Büro teile, ist völlig durch den Wind. Sie sagte mir, sie schließe alle Türen ab, prüfe jedes Fenster, bevor sie es sich gemütlich vor dem Fernseher macht. Beinahe hätte ich sie laut ausgelacht. Absurd. Einfach absurd, weil niemand das Ungeheuer sah, um es beschreiben zu können. Selbstverständlich handelt es sich um einen Menschen, das Wissen beruhigt meine Nerven. Schlimm ist das schon, was dieser Wahnsinnige mit seinen Opfern anstellt und ich hoffe, die Polizei fängt ihn bald, damit das Abschlachten ein Ende findet. 
Ich stapfe von einem Bein auf das andere und starre zu der Anzeigentafel empor. Noch drei Minuten, dann geht es nach Hause. 
Kreischend fährt mein Zug ein und ein Schwarm wildgewordener Jugendlicher drückt mich von der Tür weg. Es ist doch immer das Gleiche mit diesem Pack, denke ich beim Einsteigen. Vor zehn Jahren war ich aber anders. Bestimmt! Suchend schaue ich mich um, finde einen Sitzplatz, steure auf ihn zu und vor meiner Nase setzt sich ein fünfzehnjähriges Mädchen darauf. Wütend schnaufe ich. Vielleicht ist sie auch jünger oder älter, aber noch keine Achtzehn! Warum holt das Monster sich nicht so eine?, frage ich mich. Warum immer hübsche Frauen um Mitte zwanzig? Diese Göre könnte er sich ruhig holen, sie ist eine Diebin und genauso grinst sie mich auch an. »Na, wolltest du den Platz? Pech gehabt«, sagen ihre Augen. Mit halb offenem Mund kaut sie ihr Kaugummie. Ich rümpfe die Nase. Diesem Mädchen möchte ich zu gerne den Hals umdrehen, doch ich gehe gelangweilt an ihr vorbei und finde einen Platz neben einem älteren Herrn, der aus dem Fenster stiert. Nachdenklich blicke ich auf die Tageszeitung, die auf seinem Schoß liegt. Zwei rote Augen starren mich an und darunter steht: Der Frauenschlächter in Dämonengestalt. Beinahe lache ich laut los. Was für ein Blödsinn die Nachrichtenagenturen einen verkaufen wollen. Jetzt hat das Ungeheuer rote Augen, dabei hat es doch noch keiner gesehen. Was die sich alles ausdenken, um Schlagzeilen zu kreieren. Unter der Zeichnung sind die Bilder der getöteten Frauen und sie sind nicht viel jünger oder älter als ich. In diesem Moment fällt mir erst auf, dass auch ich in dieses Schema passe und mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Nur gut, dass ich bald daheim bin und mich aufwärmen kann. Mir ist nämlich verflucht kalt. Vielleicht sollte ich es Tamara gleich tun und mich in meiner Wohnung einsperren. Natürlich, lass dich von dem Wahnsinn ruhig anstecken Sofia, dann bist du genauso bescheuert, wie Tamara, die du vor ein paar Stunden noch ausgelacht hast! 
Nein, ich lasse mich nicht von der Massenpanik überrollen und tue das, was ich immer mache, wenn ich von der Arbeit komme. Es gibt keine Dämonen, es gibt nur Menschen, die sich wie welche benehmen. Punkt, fertig, aus! 

Endlich kann ich mir den Dreck von meiner Haut waschen. So ein verdammter Spinner fuhr doch tatsächlich mit seiner Karre durch eine Pfütze, bespritzte mich von oben bis unten mit dreckigem Wasser und rauschte davon. Wütend grabsche ich nach meinem Duschgel, meinem Schwamm und seife mich ein. 
Zum Glück brauchte ich nur fünf Minuten bis zu mir, ansonsten wäre ich vor Kälte erfroren. Draußen sind gerade mal vier Grad über null und der lässt mich klitschnass da stehen. Der Bus war abgefahren, ich suchte nach meinem Schirm in meiner Tasche, als eine Wasserfontäne auf mich niederging. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich wie ein Fisch auf dem Trockenem nach Luft schnappte. Erst Minuten später folgte auf den Kälteschock eine brennende Wut, die mich allerdings nicht aufwärmte. 
Nebel hüllt mein ganzes Bad ein. Ich liebe es einfach, richtig heiß zu duschen. 
Meine Kleidung habe ich gleich in die Waschmaschine geworfen, mit der Hoffnung, dass sie wieder sauber wird. 
Ich seufze tief und genieße, wie das Wasser auf mich niederprasselt. So ein Regenduschkopf ist wirklich fantastisch. Ich spüre, wie ich langsam entspanne und meine Wut sich im Nebel meines Bades auflöst. 
Die Wohnungstür ist abgeschlossen, meine Nachbarn über mir sind in den Urlaub gefahren und ich darf meine Musik aufdrehen, wenn ich irgendwann einmal aufhöre zu duschen. Was für ein Glück das sich die Wohnung im Erdgeschoss befindet. Unter mir der Keller und über mir, keiner. Juhuu. 
Summend drehe ich mich im Kreis. Weißer Schaum läuft mir an den Beinen hinunter und verschwindet im Abfluss. Ich greife mir das Shampoo für schwarzes Haar und beginne kurz darauf meine Kopfhaut zu massieren. Samtweicher Duft steigt mir in die Nase. Einfach göttlich. Ich liebe dieses Aroma. Ich stutze. War das eben ein Geräusch? Ich lausche, aber höre nichts weiter. 
Du dumme Kuh. Du bist allein. 
Trotzdem spüle ich mir schnell meine Haare aus, stelle die Dusche ab und steige auf Zehenspitzen aus der Duschwanne. 
Eine Gänsehaut überzieht mich. Obwohl es im Bad feuchtwarm, ja schon fast schwül ist, beginne ich zu frieren. 
Mit zitternden Händen greife ich nach einem Handtuch und wickele es um meinen Körper, als ein dumpfer Schlag durch meine Wohnung hallt.
Mit einem Schrei drehe ich mich zur Tür. Verdammt, mein Badezimmer habe ich selbstverständlich nicht abgeschlossen. Mein Herz klopft mir bis zum Hals und ich atme hektisch. 
Vorsichtig tastete ich mich Schritt für Schritt vorwärts und presse mein Ohr gegen das massive Holz. Meine Hand legt sich krampfhaft um den Türdrücker. Mit der anderen suche ich den Schlüssel und kann ihn nicht ertasten. 
Auf dem Flur höre ich, wie etwas über mein Parkett kratzt. 
Scheiße! Ich streiche mir eine Strähne aus dem Gesicht und schaue mich um. Verdammt, verdammt, verdammt. 
Mit einer Hand vor dem Mund durchwühle ich meinen Schrank, finde aber nichts, mit dem ich mich verteidigen könnte. 
Mein Föhn liegt im Schlafzimmer und meine Nagelfeile müsste im Wohnzimmer auf dem Tisch ... Etwas geht klirrend zu Boden. Ein Aufjaulen. Ein Winseln.
»Sox«, flüstere ich und spüre meine Tränen. Panisch reiße ich die Tür auf und er rennt zwischen meinen Beinen hindurch. Im Flur sehe ich einen riesen großen Schatten an der Wand. Ich erstarre. Sekunden verstreichen, in denen ich mich nicht rühren kann. Mein Hund presst sich gegen meine nackten Waden und seine kalte Nase trifft mich empfindlich. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Der Schatten bewegt sich auf uns zu. Mit einem Knall werfe ich die Tür zu und stemme mich dagegen. Mein Puls fühlt sich an, als würde er davon rasen und ich keuche. 
Der Schlüssel, wo ist dieser verdammte Schlüssel? 
Im Schrank, da wo du ihn immer hast, du Idiotin. 
Mit der flachen Hand schlage ich mir vor die Stirn, reiße den Spiegelschrank auf, nehme den Schlüssel und schließe uns im Bad ein. Kaum habe ich abgeschlossen, wummert es gegen die Tür. Zittrig weiche ich bis an die gekachelte Wand in meinem Rücken zurück. Meine Beine geben nach und ich kauere mich auf den feuchtkalten Boden. Sox zwängt sich ganz dich an mich, winselt und sträubt sein Fell.
Was geht hier nur vor? Was war das für ein Schatten? Die Tür erzittert unter den heftigen Schlägen und ich glaube nicht daran, dass sie noch lange standhalten wird. Kaum zu Ende gedacht, fliegt sie aus den Angeln. Rote Augen starren mich an und mir entfährt ein spitzer Schrei. Das Knurren von Sox, nehme ich nur vage wahr. 

Dienstag, 2. September 2014

Maras Welt (Tagebucheintrag Nr. 9)

Tagebucheintrag Nr. 9
27. August 2012


Ein neues Leben




Warme Luft dringt durch das geöffnete Fenster herein. Zwei Koffer stehen neben der Tür und warten darauf, dass sie hinausgetragen werden. Wehmütig schaue ich mich um. In den letzten Wochen lebte ich in diesem Raum, redete, weinte, trauerte und schrie. Andrew leitete meine Therapie, worüber ich mich sehr glücklich schätze. Wenn er nicht gewesen wäre, wenn er mich nicht gesucht hätte, läge ich jetzt tief unter der Erde. 
Melissa ist ein Teil von mir. Sie ist meine andere Hälfte und sie wird es immer sein. Der Fluch der Eineigienzwillinge. Keiner von uns ist ohne den anderen ganz. Ich verdanke meinem neuen Freund viel mehr als nur mein Leben. Durch ihn verstehe ich heute, warum ich es schwerer als andere habe. Meinen Verlust versteht nicht jeder und wer es nicht versucht, kann es auch nicht. Meine Eltern verloren eine Tochter, ich hingegen verlor einen Teil meiner Seele. Was für mich schlimmer wiegt, als ihr Verlust. 
Nachdenklich drehe ich mich um meine Achse und sehe mich in diesem Zimmer um. Die Wand ist weiß gestrichen und ein Ölgemälde hängt über dem Bett. Es zeigt eine Waldlichtung, auf der drei Rehe stehen. Immer wenn ich traurig war, sah ich mir das Bild an, welches auf mich beruhigend wirkte. Ja, ich werde all das hier vermissen. Für einen Augenblick verspürte ich das Gefühl von Heimeligkeit. Er gab sie mir. 
Andrew ist zwar zehn Jahre älter als ich, jedoch merke ich, wie ich mich immer mehr nach seiner Nähe sehne. Dies mag verkehrt sein, nicht richtig, jedoch wehre ich mich nicht dagegen. Auch wenn er mein Arzt ist, darf ich mich doch in ihn verlieben. Was soll daran falsch sein? Ich bin nicht völlig bescheuert. Ich bin einfach nur nicht mehr ganz, womit ich lernen muss umzugehen. 
»Bist du fertig?«, fragt er hinter mir. Lächelnd drehe ich mich zu ihm um und nicke, dabei entspricht das nicht ganz der Wahrheit. Meine Koffer sind gepackt, aber ich bin nicht bereit. Eiskalt fühle ich mich, wenn ich daran denke, dass ich in vier Stunden zurück in Hamburg bin. Nicht allein, denn Andrew begleitet mich. Melissas Tod ist ein Rätsel, welches ich gelöst wissen will. Warum machte sie das? Wieso sagte sie nichts. Es sind zu viele offene Fragen, die mich quälen. Ich muss es einfach wissen, damit ich verstehen kann. Und dann gibt es da ja auch noch Sven, der mich alle drei Tage anruft und darum bettelt, dass ich Heim komme. Es ist an der Zeit, dass ich meine Habseligkeiten aus seiner Wohnung hole. 
»Geht es dir gut?« Andrew nimmt meine Hand, hält sie fest und sieht mir tief in die Augen. 
»Ja«, wispere ich und erwidere seinen Blick. »Ich habe Angst«, gebe ich zu und er nickt. 
Ein Zurück gibt es nicht. Ab heute heißt es, nach vorne starten. Für einen Moment schließe ich meine Lider, lausche auf mein Herz und drücke seine Hand. 
»Gehen wir«, sage ich und lasse meine Augen ein letztes Mal durch das Zimmer wandern. 
»Es muss nicht für immer sein«, flüstert er mir ins Ohr. »Wenn wir wissen, warum Melissa sich das Leben nahm, nehme ich dich wieder mit.« 
Genau das ist es, was ich mir wünsche. In nur drei Monaten fühlte ich mich hier mehr zuhause, als sonst irgendwo. Eine traurige Bilanz, aber die Wahrheit. 
Zögernd lässt er meine Hand los und nimmt die Koffer. Betrübt folge ich ihm auf den Flur, die Treppen hinunter und zum Eingang der Hopefield Clinic. Maria winkt mir zum Abschied zu. Die junge Schwester brachte mir oft Kaffee und Kekse. Sie ist sehr liebenswürdig und ich vermisse sie jetzt schon. Ein Taxi wartet auf uns und ich steige auf der linken Seite ein. Andrew setzt sich neben mich und dann geht es los zum Flughafen. 

Dieses Tagebuch schrieb ich in der Gegenwart, auch wenn das Geschehene eine Weile zurückliegt. Andrew sagte, es würde mir helfen, alles so aufzuschreiben, als würde ich es in diesem Augenblick erleben. Das tat ich also und es endet halt eben damit, dass wir in den Flieger steigen, der uns nach Hamburg bringen wird. Was immer die Zukunft bereithält, mit ihm an meiner Seite kann mir gar nichts passieren. 

ENDE

Sonntag, 31. August 2014

Maras Welt (Tagebucheintrag Nr. 8)

Tagebucheintrag Nr. 8
15. Mai 2012


Das Letzte, was ich will




Alles begann mit Regen und es endet im Regen. 
Tief hole ich Luft und schaue zum Himmel empor. Klatschend landen die Tropfen in meinem Gesicht, die ich energisch davon wische. Erwähnte ich, dass ich dieses Zeug nicht mag? Da sich mein Regenschirm noch immer in meiner ehemaligen Wohnung befindet, besitze ich keinen. Eine Änderung gibt es, heute macht es mir nicht ganz so viel aus, wie damals. 
Ich ziehe meinen kleinen Trolli die Straße entlang und bleibe nicht stehen. Wohin ich gehen soll, weiß ich nicht. Mir ist nichts geblieben außer meinem Leben, mit dem ich nichts anfangen kann.  
Jetzt bin ich einsamer als jemals zuvor. Um mich herum herrscht reges Treiben. Die Leute flüchten durch das Nass und die Gespräche sind gedämpft. Nicht, dass ich lauschen möchte, aber es würde mich etwas ablenken. Mir bleiben nur meine Gedanken, die Hoffnungslosigkeit und die Erkenntnis, nichts in diesem Leben hinzubekommen. Melissa habe ich sterben lassen, meinen Eltern erlaubte ich, mich zu hassen und Sven -. Ihm gab ich das Recht, mich zu verletzten. Ich bin eine selten dämliche Kuh, die versucht in einem Trümmerhaufen zu überleben und es zu nichts bringt. Nicht einmal in einem fremden Land komme ich aus meiner Haut heraus. Niemand braucht mich. Keiner will mich und langsam keimt der böse Gedanke auf, dass ich es nicht wert bin, dass ich es nicht verdiene. 
In einem Hauseingang kauere ich mich auf die Treppe und greife in meine Tasche. 
So einfach, ich muss es nur machen wie Melissa. 
Meine Hände zittern, als ich meinen linken Ärmel nach oben schiebe und meinen Arm frei von jeglicher Kleidung lege. Wasser tropft aus meinen Haaren auf meine Hose und auch das stört mich nicht länger. 
»Mir tut das alles wahnsinnig leid«, flüstere ich und schaue auf das Metall in meiner rechten Hand. »Es tut mir leid Melissa, ich wusste nicht -« Tränen laufen über mein Gesicht und mischen sich mit dem Regen, genau wie damals. 
Wenn ich gehe, ist die Welt von mir befreit. Sie braucht mich nicht!
»Für uns beide ist es besser«, wispere ich heiser und schniefe. »Du konntest mir nichts geben und ich gab dir nichts. Wir brauchen uns nicht. Es ist besser, wenn ich gehe!« 
Im ersten Moment glaube ich, die Welt würde aufschreien, mir zu rufen, dass ich irre, doch sie schweigt. Nein, sie konnte mir nichts geben und gab mir auch nie etwas. 
Entschlossen hebe ich meine Hand und verharre einen Augenblick, in dem ich die Klinge anstarre. 
So einfach, ich muss es nur machen wie Melissa. 
»Gleich kann uns nichts mehr trennen, geliebte Schwester.« Meine Hand saust herab und ich schließe meine Augen. »Gleich sind wir wieder zusammen und -«
Erschrocken reiße ich die Lider auf und schaue in braune, warme Augen. Vor mir kniet ein Mann, der mir bekannt vorkommt. Die kleine Nase und die schmalen Brauen, sogar den vollen Mund kenne ich. Dr. Hopefield hält mein Handgelenk fest und sieht mich mit so viel Wärme an, dass das Messer meinen Fingern entgleitet und mit einem dumpfen Klang auf dem Treppenabsatz landet. Urplötzlich strömen noch mehr dieser verhassten Tränen über mein Gesicht, ich höre mich laut schluchzen. Dr. Hopefield setz sich neben mich und nimmt meine Hände in die Seine. Ich wusste nicht, wie gut sich das anfühlen kann. 
»Mara, richtig?« 
Leicht nicke ich und versuche vergeblich mit dem Weinen aufzuhören. 
»Warum wolltest du das machen?« Hopefield deute mit dem Kopf auf das Messer und erst will ich mit den Schultern zucken und lass es dann. 
»Ich habe meine Schwester sterben lassen«, flüstere ich. »Ich bin schuld!«, schreie ich. »Ich habe sie sterben lassen!« Gequält schluchze ich auf und sinke in mich zusammen. »Ich habe sie nicht gerettet, meine Eltern reden nicht mit mir, mein Freund hat mich vor meinen Augen betrogen und niemand versteht meinen Schmerz«, ich sehe ihn an und alles, was ich erblicke, ist Betroffenheit. Ich schlucke und weine weiter. »Niemand versteht, dass mein Herz Tag für Tag weh tut, dass ein Teil meiner Seele fehlt, seitdem Melissa nicht mehr da ist.« Ohne das ich nachdenke, lege ich meinen Kopf auf seine Schulter. Er lässt meine Hände los und legt seinen Arm um mich. Irgendwie kommt das hier mir komisch vor. Wir sitzen auf einer Treppe und lassen und nass regnen. Er gibt mir das, wonach ich mich, vor nicht all zu langer Zeit gesehnt habe. Wirklichen und ehrlich gemeinten Trost. Nein, Anteilnahme.
»Doch ich«, sagt er mit fester Stimme. »Ich verstehe dich.« 
Verwirrt drehe ich meinen Kopf und sehe ihn an. Seine Augen blicken mich ernst an und ich spüre, wie ehrlich er es meint. 
»Melissa war deine Schwester. Sie war dein Zwilling.« 
Kaum merklich nicke ich wieder nur. »Sie fehlt mir. Sie fehlt mir so wahnsinnig, dass ich oft denke, dass ich ohne sie nicht leben kann.« 
Seine Umarmung wird kräftiger. Dr. Hopefield ist so nett zu mir, dabei ist es auch sein Job. Für ihn bin ich eine Patientin, die ganz dringend therapeutische Hilfe benötigt. 
»Du kannst lernen, damit zu leben«, flüstert er mir in mein Ohr. 
»Nein!«, erwidere ich härter als beabsichtigt. »Ich habe sie sterben lassen. Ich werde nie vergessen, wie ich sie gefunden habe -« Ich breche ab und schüttel den Kopf. Die Bilder will ich nicht mehr sehen, sie sollen verschwinden. Ich schreie auf, drücke meine Hände gegen die Stirn und dennoch liegt Melissa in ihrem Blut im Bad. 
»Was ist passiert?«, fragt er mich sanft und ich beginne zu sprechen. Nichts lasse ich aus. 
»Es ist nicht deine Schuld.« 
Etwas in mir begehrt auf, aber ich schweige.
»Es ist wirklich nicht deine Schuld. Du hättest es nicht verhindern können«, sagt er und ich möchte ihm glauben.  
»Komm! Gehen wir zu meinem Wagen. Hier holen wir uns noch eine schreckliche Erkältung.« Steif erhebt er sich und hält mir seine Hand hin. »Ach ja, ich bin Andrew.« Seine Augen lachen mich an und ich greife ohne Zögern nach seiner Hand, lasse mich hochziehen und zu seinem Auto führen. Mein Koffer landet im Kofferraum und ich nehme auf dem Beifahrersitz Platz.

Hoffnungsschimmer am trostlosen Himmel

 Manchmal schien alles so weit entfernt. Nicht einmal der Himmel wollte greifbar sein und entzog sich seines Blickes. Wolken, schwarz und gefährlich zogen auf und verdunkelten den Tag, der eh schon so trostlos auf Torben wirkte. 
Sein Gemüt trübte sich mit dem Dunkel des Tages. Er saß auf einer Bank, starrte zu Boden und fragte sich, worin der Sinn des Lebens bestand. Mit seiner Hand rieb er sich über die schmerzenden Rippen, die jeden Atemzug zu einer Qual machten. Tränen hatte er schon lange keine mehr. Sie waren mit den Jahren aufgebraucht und versiegt. Zu viel hatte er geweint und nie hatte es jemand bemerkt, geschweige denn ihn in den Arm genommen und getröstet. Tränen brachten ihm weder Erleichterung, noch Zuneigung. Sie brachten nur noch mehr Schmerz, noch mehr Qualen, noch mehr blaue Flecken und Knochenbrüche.
Über ihm raschelten die Blätter in den Bäumen. Der Regen benetzte den Park und tränkte allmählich die Erde und er blieb sitzen, wo er war. Er fühlte, wie langsam seine Kleidung durchnässte, doch wo sollte er hin? Nach Hause? Unmöglich, dort wollte ihn keiner. Sie brauchten ihn nur, als Fußmatte, als Punchingball, an dem sie ihren Frust und ihre Wut auslassen konnten. Er hatte genug davon. 
Eine Leere umgab ihn, die undurchdringlich für in schien und wenn er glaubte, einen Lichtblick zusehen, wurde er eines Besseren gelehrt. Egal was er auch anfasste, was er er auch versuchte, am Ende ging immer etwas schief. Wieder und wieder zerstörten sie seine Träume.
Er wusste, dass er dringend Hilfe benötigte, doch er konnte nicht darüber reden. Wie sollte er seine Eltern verraten? Wie sollte er ihnen das antun? Es gab einen leichteren Weg und der versprach ihm, dass er schweigen durfte. Leider schwankte er in seinem Entschluss, allem ein Ende zu setzen. 
Schritte näherten sich ihm und jemand setzte sich zu ihm auf die Bank und hielt einen Regenschirm über ihn. Ein Arm legte sich um seine Schulter und zog ihn zu sich. 
»Du bist nicht allein«, flüsterte der zehn Jahre ältere. »Lass uns endlich dein Leid beenden. Ich kann es mir nicht länger mit ansehen.« 
Torben blickte auf und sah seinen Nachhilfelehrer an.
»Warum nicht?«, wisperte er, obwohl er die Antwort kannte.
»Weil ich dich gern hab. Weil du mir wichtig bist. Weil du mir viel bedeutest.« 
Torben kamen die Tränen, die er nicht mehr vermochte, hinunterzuschlucken. Er barg sein Gesicht an der Schulter seines einzigen Freundes und weinte zum ersten Mal nach Jahren. 
»Und wo soll ich hin? Wenn ich tue, was du möchtest, dann ...«
»Du kommst mit zu uns. Das Haus meines Vaters ist groß genug und er möchte, dass du es annimmst.« 
»Warum?« Torben schniefte und schluckte. 
»Weil er dich mag und weil er sich dann um dich keine Sorgen mehr machen muss.«
»Er macht sich Sorgen um mich?«, flüsterte Torben ungläubig. 
Der zehn Jahre ältere nickte. 
»Komm, lass es uns tun und dann kann dein Körper heilen und vielleicht heilt deine Seele mit der Zeit auch. Du bist nicht allein. Wir helfen dir.« 
Torben ließ sich von der Bank ziehen und folgte dem Mann aus dem Park und stieg in den Wagen ein, der am Straßenrand geparkt worden war. 
Manchmal tat er doch das Richtige. Auch wenn die SMS etwas zu heftig gewesen war, war sie verstanden worden. Er warf seinem Freund einen Seitenblick zu und hoffte, dass er jetzt endlich aus dem Alptraum erwachen durfte und ein ganz normaler Teenager sein konnte, wie alle anderen auch. Zumindest bekam er jetzt eine Chance. 

Was siehst du?

  Nun stehe ich hier. Im Raum der vielen Spiegel und ich weiß gar nicht, warum ich hier bin. Sieh dich an, sagten sie mir. Geh und sieh dich...